Sie sind hier: www.elmar/lorey.de/rheingau/Ostereier.htm

Kurzübersicht zu diesem Text
Hier erfahren Sie etwas über den tieferen Sinn von Nikoläusen,
die an Häusern hochklettern,
über Martin Luther als Erfinder der Bratwurst,
über das älteste schriftliche Zeugnis für
farbige Ostereier in Deutschland,
über manch weinseliges – aber verschwundenes -
Brauchtum im Rheingau
(das ist die Region zwischen Wiesbaden und Rüdesheim am Nordufer des Rheins)
und warum sich die Rheingauer diebische freuen,
dass der einst
von Rabelais gepriesene „Mainzer Schinken“ verschwunden ist.

Elmar M. Lorey
Von Nikoläusen, Ostereiern und historischen Schinken
Zur Magie Rheingauer Brauchtums
Oder: Das farbige Osterei als Rheingauer Erfindung [1]

Mit dem Brauchtum ist es so eine Sache. Die Regeln, nach denen es auftaucht und wieder verschwindet, erscheinen mitunter mehr als rätselhaft. Das Wort selbst ist noch keine hundert Jahre alt, und doch wird das, was damit gemeint ist, die Volksgebräuche einer Region, die Gebräuche einer Zeit, seit gut zweihundert Jahren erforscht. Noch bis ins 19. Jahrhundert war ein „Brauchbuch“ eine Art volkstümliche Rezeptsammlung, die man „brauchte“, um allerlei Krankheiten, Leiden oder auch nur Wehwehchen zu kurieren. Heute würde man darunter eher eine Sammlung von „Volksgebräuchen“ verstehen, gewissermaßen das Arbeitsergebnis von Volkskundlern und Ethnologen, was wiederum nicht unbedingt etwas mit Schmerzen oder Krankheiten zu tun haben muss.
Bei der Erforschung des Brauchtums kamen die Wissenschaftler meist zu dem Ergebnis, dass seine Wurzeln in heidnische Vorstellungen zurückreichen, die mit der Einführung des Christentums jedoch überformt und mit neuer religiöser Deutung versehen wurden. Eine Transformation, die - wie man weiß - nicht immer bis ins Letzte glückte. Nicht erst seit der Spaltung des Himmels in ein katholisches und ein evangelisches Lager kam es zu manch widersprüchlichem Umtaufversuch. Heutzutage, so scheint es, ergreift bisweilen der Einzelhandel die Initiative, um abgesunkenes Brauchtum aus höheren oder tieferen Schubladen der Geschichte hervorzukramen, umzugestalten und dann, mit neuen emotionalen Appellen aufgeladen, als verkaufsförderndes Mittel zu gebrauchen.

Zum Gebrauchswert von Brauchtum
Kletter(k)laus mit TarnungMan hat sie noch gut in Erinnerung, die Invasion der dicken alten Männer mit den Rauschebärten, die in der letztjährigen Vorweihnachtszeit in größerer Zahl als je zuvor die Fassaden deutscher Reihenhäuser erstürmten oder in fröhlicher Sinnlosigkeit auf lichtergeschmückten Vorgartenbäumen ihr Unwesen trieben. Kulturanthropologen verfielen ins Grübeln und suchten nach einer Deutung dieses plötzlichen Massenphänomens. Fand darin vielleicht die tiefe Depression des deutschen Bürgers ihren Ausdruck, der sich wegen des Niedergangs von Dax und Wirtschaft ums letzte Hemd bedroht sah, sich gewissermaßen selbst in den oberen Geschossen des eigenen Hauses nicht mehr sicher wähnte? Oder zeigt sich hier so etwas wie eine Wiedergeburt des magischen Denkens? Der außen aufgehängte Kletter(k)laus als magisches Abwehrzeichen, vergleichbar den apotropäischen Fratzen an den mittelalterlichen Kathedralen. Ausdruck und Wunsch, den schon mit den ersten Novembertagen einsetzten Weihnachtsstress nach draußen zu verbannen? Sich vor dem Lärm der stillen Tage zu schützen? Kletter(k)laus mit magischem GeschenkebannDie mancherorts an die Hauswand verbannten Geschenkeknäul lassen sich auch als Symbole öffentlich dokumentierter Konsumverweigerung deuten.

In dieser Region freilich muss man sich fragen, ob sich dahinter nicht der kühne Versuch verbirgt, die brauchtumsmäßige Nutzung des Rotrocks – im Gegensatz zum schnell nadelnden Weihnachtsbaum - bis in die Fastnachtszeit auszudehnen, gewissermaßen nach dem Motto „Wolle mern eroi losse“? So verwunderlich wäre das nicht, sollen doch früher schon ab Dreikönig bis Fastnacht arme Rheingauer in Verkleidung und bettelnd durch die Dörfer gezogen sein, um milde Gaben einzusammeln. Auf diese Tradition jedenfalls berufen sich die Kiedricher „Schnorrer“.

Der manische Fassadenkletterer in Schockstarre ist ja beileibe nicht einfach nur eine Variante des traditionellen Nikolaus. Der seit ein paar Jahren so beliebte Bartträger im pelzbesetzten Morgenmantel entstammt, wie kundige Forscher mittlerweile herausgefunden haben, eindeutig einer Coca-Cola-Werbung der 70er Jahre und hat nach einem globalen Siegeszug nun auch in Deutschland seinen Vorgänger erfolgreich aus dem Felde geschlagen.

Martin Luther, u.a. Erfinder des Heiligen Christ sowie der BratwurstDieser säkulare Umtauf-Versuch ist nicht ohne historische Vorbilder. Schon Martin Luther hatte Probleme mit dem Bischof Nikolaus von Myra, der seinen besonderen Ruf unter anderem dadurch erlangte, dass er einstmals drei unverheiratbaren Mädchen mit einigen Goldkugeln ins Eheglück verholfen haben soll. Den Reformator störten die öffentlichen Umzüge am 6. Dezember, die ihm als Götzendienerei erschienen. Mit dem „Heiligen Christ“, einer erwachsenen Engelsfigur, wollte er damals Abhilfe schaffen. Die protestantische Nikolaus-Abneigung war jedenfalls so nachhaltig, dass sie sich auch im speziellen konfessionellen Sagenschatz niederschlug, wie uns das „Sonntagsblatt des Nordhäuser Couriers“ vom Jahre 1896 dokumentiert.[2]

Dort wird nach einer umlaufenden Sage vom Streit zwischen Martin Luther und St. Nikolaus berichtet, dessen Schlichtung beide schließlich einem Gottesurteil überlassen. Wer von ihnen als erster die Spitze des Brocken erreichte, sollte den Sieg davontragen. Einzig ein Stock war als Hilfsmittel erlaubt. Luther griff zu einem Trick und nahm stattdessen eine lange Wurst - und errang, dank dieser kräftigenden Wegzehrung, den Siegeslorbeer. Dass auf dem Hintergrund dieser Episode der Reformator seitdem auch als Erfinder der Bratwurst gilt, soll hier nur der Vollständigkeit halber mitgeteilt werden.

Doch Luthers Umdeutungsversuch, die Gestalt des gabenspendenden „Christkindes“, steht selbst längst auf der Roten Liste. Nichts sind die Manifestationen religiösen Brauchtums, verglichen mit dem Siegeszug des coca-cola-gesättigten Santa Claus. Dies wurde der ohnehin pisageschockten Nation spätestens klar, als in der zurückliegenden Weihnachtszeit jene Umfrageergebnisse veröffentlich wurden, nach denen mehr als ein Drittel der Kinder nichts mehr über Sinn und Anlass des Weihnachtsfestes weiß. Noch zehn Prozent waren der Ansicht, der Brauch habe damit zu tun, „weil Oma zu Besuch kommt“. Die Hälfte der Ostdeutschen war der Meinung, der 25. Dezember werde erst seit dem 16. Jahrhundert gefeiert. Tief in Vergessenheit, so scheint es, ist die Tatsache geraten, dass schon Papst Liberius im Jahre 354 in dieser Sache tätig geworden war und die Christenheit mit diesem Feiertag beglückt hatte.

Die Rückkehr ländlicher Osterbräuche
Das Plastikosterei als Symbol des LebensDoch neben allem Pessimismus gibt es auch Hoffnung. Jedes Jahr künden freudige Zeitungsmeldungen landauf und landab von der Wiederbelebung ländlichen Brauchtums. Das gilt auch für den Rheingau, so sehr sein ländlicher Charakter auch zu schwinden scheint. Langsam zwar, doch stetig vermehren sich jährlich die Osterkronen in den klassischen Weindörfern und schmücken die alten Ortskerne, auch wenn es bisweilen besonderer Mühen bedarf, das angemessen idyllische Plätzchen für das traditionsreiche Schmuckstück ausfindig zu machen. Kein Zweifel, unermüdlich tätige Hände bringen das bunt bemalte Landei – auch wenn es zuweilen aus Plastik ist - wieder zu Ehren. Von bunten Bändern umflattert, kündet sein massenhafter Auftritt von der Rückkehr zu altem Brauchtum, und die Parkplätze um Kloster Eberbach können die Besucherscharen kaum fassen, die sich von nah und fern zum jährlichen Ostereiermarkt einfinden. Selbst der alte Brauch des „Eierditschens“ wird mancherorts wieder aus der Enge familiärer Zweikämpfe befreit und als Akt öffentlicher Brauchtumspflege neu geadelt.

Nun könnte der Skeptiker fragen, ob der Rheingauer damit wirklich regionales Brauchtum wieder belebt oder doch nur konsumgesteuert vorfabrizierten farbigen Ostereiern auf den Leim geht, wie sie an den Kaufhauskassen schon ab Sylvester vorgehalten werden? Nein, können wir ihm ganz beruhigt zurufen. Ganz im Gegenteil. Der Rheingauer betreibt die Wiederbelebung mit Fug und Recht und mit höchstem Segen der Brauchtumsforscher.

Gerade beim farbigen Osterei greift der Rheingauer nämlich auf eine eigene und jahrhundertealte Tradition zurück. Zwar kennen auch andere Regionen die Sitte, zu Ostern Eier zu verschenken. Schon bei den frommen Christen der Urkirche war es löblicher Brauch und sie sahen darin ein Sinnbild des Lebens und der Auferstehung. Als Beigabe legte man es dem Verstorbenen mit ins Grab, ein Hoffnungszeichen für das darin eingeschlossene Leben. In der Fastenzeit als Speise verboten, tauchte das Ei zum Osterfest aus den geheimen Vorratskammern wieder auf und wurde zum Symbol für Frühling und der Wiedererweckung aller guten Geister.

Auch hier ist das Lebenssymbol aus PlastikAls Fruchtbarkeitssymbol hat man es mit der germanischen Frühlingsgöttin Ostara in Verbindung gebracht, auf deren Namen man Ostern zurückführt, und als Zinsei war es auch im Rheingauischen Mittelalter bekannt. Kurzum, seit über zweihundert Jahren haben Historiker, Volkskundler und Ethnologen das historische Dunkel ums Ei ausgeleuchtet und damit seitenweise einschlägige Bücher und Lexika gefüllt.[3]
Dass aber gerade der Rheingau hier einen besonderen historischen Schatz zu hüten hat, macht ein kleines wissenschaftliches Scharmützel deutlich, das in den ersten Jahrzehnten des vergangenen 20. Jahrhunderts in der angesehenen Zeitschrift „Archiv für Religionsgeschichte“ ausgetragen wurde. Im Jahre 1923 nämlich hatte der renommierte Sprachforscher Friedrich Kluge (1856-1926), Herausgeber des 1883 erstmals erschienenen und heute noch immer wieder aufgelegten „Etymologischen Wörterbuches der deutschen Sprache“, unter dem Titel „Ostereier in Deutschland“ einen kleinen Überblick zum Forschungsstand in dieser Sache veröffentlicht.
[4]

Nach interessanten Darlegungen zum ersten Auftauchen des Wortes Osterei in einem gedruckten Buch (1522) Johannes Pauli, Schimpf und Ernst, 1522und zu unterschiedlichen regionalen Bräuchen kam Kluge zu dem Schluss, dass der wissenschaftliche Nachweis für farbige Ostereier erst für den Anfang des 18. Jahrhunderts zu führen sei. Der deutsche Reiseschriftsteller Olearius habe im Jahre 1663 zwar von „gefärbten Ostereiern bei den Russen“ berichtet, dies aber so beschrieben, als ob er selbst „keine gefärbten Ostereier kenne“ Auch im „Frauenzimmerlexikon“ von 1715 sei zwar „viel Wissenswertes über Eierspeisen und Zubereitung von Eiern“ zu lesen, allerdings „ohne der Ostereier zu gedenken. (...) Frauenzimmer Lexicon allerdings von 1739Wenn das Färben der Ostereier um 1700 im Bereich der Weiblichkeit irgendeine Rolle gespielt hätte“, so seine Folgerung, “hätte das Frauenzimmerlexikon die Tatsache sicher erwähnt. Das Gegenteil ist der Fall.“[5] Erst im Jahre 1741, so Kluge weiter, habe der Berliner Gymnasialrektor Johann Leonhard Frisch in seinem zweibändigen deutsch-lateinischen Wörterbuch das gefärbte Osterei aufgeführt: „Oster-Ey, ovum colore tinctum, welches man färbt.“ Damit, so der Autor, könne die These „aufrechterhalten werden, dass unsere bunt gefärbten Ostereier dem 16./17. Jahrhundert noch fremd waren.“[6]

Das farbige Osterei, eine Rheingauer Erfindung?
Doch das sollte nicht lange ohne Widerspruch bleiben. Die historische Quellenlage war nämlich anders. Schon in einem der folgenden Hefte der Zeitschrift meldete sich der Wiesbadener Gymnasiallehrer Adolf Bach (1890-1972) mit einem Beitrag zu Wort, in dem er Kluges zeitliche Festschreibung und die preußische Urheberschaft rundweg in Frage stellte. „Was die gefärbten Eier angeht,“ schrieb er, “so sind diese am Mittelrhein schon vor der von Kluge genannten Zeit nachweisbar.“
[7]

Bach war damals unter anderem auch Schriftleiter der „Nassauischen Annalen“ und hatte sich auf Volkskunde und Mundartforschung spezialisiert. Der aus Bad Ems gebürtige Pädagoge, der später an der Universität Straßburg und dann in Bonn lehrte, war, wie er schrieb, in seiner „Materialsammlung zur rheinischen Volkskunde“ fündig geworden und erklärte, dass sehr wohl ein früheres Dokument existiere, mit dem sich der Brauch gefärbter Ostereier nachweisen lasse, und dieses Zeugnis stamme aus dem Rheingau. Nach einem handschriftlichen Dokument aus dem Jahre 1601 sei dort der Brauch gewesen, dass zu Ostern die Kinder von ihren Lehrern gefärbte Eier erhielten. Wörtlich war darin - in Übersetzung des lateinischen Textes - zu lesen: „Vielfach wurden die Eier bemalt und dann die Farbe mit Scheidewasser (d.i. Salpetersäure d.V.) weggeätzt, worauf vielerlei Figuren auf dem Ei entstanden. Vielfacher Luxus herrschte hierin.“[8]

Damit war klargestellt, dass der älteste schriftlicher Beleg für das farbige, ja sogar für das kunstvoll farbig verzierte Osterei aus Rüdesheim stammte und altes Rheingauer Brauchtum bezeugte. Bei dem nunmehr vierhundert Jahre alten Schriftstück, auf das Bach sich berief, handelte es sich in der Tat um einen ausführlichen handschriftlichen Bericht des Rüdesheimer Pfarrers Konrad Noll, der von 1601 bis 1603 neben seiner dortigen Seelsorgertätigkeit zugleich dem Rheingauer Landkapitel als Dekan vorstand.[9] In dieser Eigenschaft war an ihn von der Mainzer Kirchenbehörde die Aufforderung ergangen, einen umfassenden „Bericht über die religiösen Zustände des Rheingaus“ vorzulegen, der Noll in großer Ausführlichkeit nachgekommen war. Hintergrund für diese Mainzer Neugier auf Rheingauer Bräuche ist die Zeit der Gegenreformation. Im Zuge der konfessionellen Spannungen, die unter anderem wenig später auch zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges führen sollten, war die kurmainzer Behörde höchst interessiert in Erfahrung zu bringen, ob und in welchem Maße reformatorisches Gedankengut in diese urkatholische Region eingesickert war.

Brauchtum - im Wein gebadet
Nolls breite Darstellung Rheingauer Volksbräuche folgt dem Ablauf des Kirchenjahres und macht immer wieder deutlich, wie stark Sitte und Brauchtum auch vom Wein geprägt waren. So berichtet er etwa von der „Johannisminne“, bei der am Tag des Heiligen Johannes Evangelist (27. Dezember) den Gläubigen in der Kirche der „Johannis-Trunk“ ausgeschenkt wurde. Dieser am Festtag des Apostels geweihte Wein wurde auch sonst ausgiebig kredenzt. Man trank ihn als Heilmittel, bei Abschieden und Wiedersehen, bei Hochzeiten und Beerdigungen. Mancherorts zogen sich die Leichenbegängnisse fast über den ganzen Tag hin, weil keiner, an dessen Haus der Trauerzug vorbei kam, es sich nehmen ließ, die Trauergäste damit zu bewirten.
[10]

Noll berichtete aber auch von den üblen Bestrafungsritualen, denen beispielsweise eine Figur des weinheiligen Papstes Urban unterzogen wurde, wenn denn an seinem Feiertag (25. Mai) regnerisches Wetter eine womöglich schlechte Weinernte ankündigte. Herrschte am Tag der „Urbanstracht“ hingegen gutes Wetter, wurde der Heilige mit Kränzen geschmückt und mit einem kräftigen „Imbs“ gefeiert. Die Hattenheimer freilich verlegten die Veranstaltung in die dem Urbanstag folgende Nacht und mitten in einen Weinberg, wo das Spektakel erst um vier Uhr am Morgen endete. Der so ausgezeichnete Winzer, der jedes Jahr wechselte, bedankte sich ausgiebig mit Speis und Trank.

Ganz besonders profitierten von diesem Brauch die Eltviller Schröter, jener Berufsstand, der gleichsam das Monopol aller Weintransporte beanspruchen konnte. Mit einem gewaltigen Krug ausgestattet, sammelten sie an diesem Tag bei „den Herrschaften“ Wein ein, um diesen – man könnte sagen – „Urbanscuvee“ noch am gleichen Abend zu verzechen. Selbst die Kinder, die als Sternsinger am Dreikönigstag mit einem beleuchteten und drehbaren Stern von Haus zu Haus zogen, um Geschenke und Geld einzusammeln, wurden „häufig auch mit Wein“ bewirtet. Das mag nicht weiter überraschen, war doch das Lied, das sie dabei sangen, auch nicht gerade kirchenfromm: „Die heiligen drei König mit ihrem Stern, sie essen und trinken, bezahlen nicht gern“

Von einem anderen Brauch profitierten vor allem die Glöckner. Ihnen war vorbehalten, den so genannten Brauthahn zu liefern, der unumgänglich zum letzten Gang des Hochzeitsschmauses gehörte. Das luxuriöse ausgestattete Gebäckstück wurde aber auch den anwesenden Junggesellen serviert. Mit Eicheln und Blumen geschmückt, galt er ihnen als Ermahnung, sich endlich eine Braut zu suchen. „Diese Brauthähne besorgten die Glöckner und hatten mit den Bäckern hierbei reichlichen Verdienst.“. Unter den Bräuchen der Karwoche ist neben den farbigen Ostereiern auch von den Gründdonnerstags-Eiern die Rede, die Kinder von ihren Taufpaten und Taufpatinnen erhielten. Im Gegensatz zu den Ostereiern wurden sie jedoch nicht gekocht, sondern fanden ganz im Sinne eines Fruchtbarkeits­Symbols mit Vorliebe im Stall für die Nachzucht Verwendung, weil die daraus erbrüteten Hühner als besonders erfolgreiche Legerinnen galten.
Und da wir schon bei der Kleintierhaltung sind: der Hase ist eine eher junge Erscheinung im österlichen Brauchtum und eine „evangelische Erfindung“ dazu.
[11]Den christlichen Lehrern war er lange Zeit wegen seiner sexuellen Aktivität mehr als suspekt. Im Jahre 751 von Papst Zacharias noch für den Verzehr verboten, weil der Teufelsbraten für keusche Christen eine Gefahr darstellte, kam er als Gebildbrot – mit eingebackenem Ei an eindeutiger Stelle – erst spät im Elsass in Gebrauch.[12]

Vom Widerstand gegen das Brauchtum
Der ausführliche Bericht des Rüdesheimer Pfarrers Noll, so steht zu vermuten, stieß bei der Mainzer Landesherrschaft, zu der der Rheingau ja noch für die nächsten zweihundert Jahre gehörte, keineswegs auf ungeteilte Begeisterung. Dort stand man den weinreichen Bräuchen schon längst mehr als skeptisch gegenüber. Den geistlichen Herrn bereitete es zunehmend Unbehagen, dass kirchliche Feiertage in der Regel Anlass zu ausgiebigen weltlichen Festen gaben. Deshalb wurden vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg und im Zuge katholischer Reformbemühungen zahlreiche volkstümliche Feste und Bräuche ausdrücklich verboten oder durch einschneidende Regelungen und Beschränkungen aus dem Feierkalender der Region regelrecht verdrängt. Dass von solchen Restriktionen auch die gefärbten Ostereier betroffen waren, ist allerdings nicht überliefert.

Andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass gerade in Sachen Osterei der Gegenwind auch diesmal aus dem protestantischen Lager kam. Johannes Richier 1682Der Frankfurter reformierte Pastor und Arzt Johannes Richier beispielsweise griff in seiner 1682 erschienen Disputation „De ovis paschalibus - Von Oster=Eyern“ den Brauch als einen der typischen „Irrtümer im zeitgenössischen Deutschland“ an. Darüber hinaus versuchte er mit Hilfe medizinischer Autoren bis hin zu den antiken Ärzten Galen und Dioskorides nachzuweisen, dass den gekochten Eiern besondere gesundheitschädliche Wirkungen zugesprochen werden müssten.
Da die sechzehnseitige lateinische Abhandlung allerdings als achtzehnter Band der Heidelberger Universitäts-Reihe „Satyrae Medicae“ erschien, kann man davon ausgehen, dass sich der gebildete Frankfurter Pastor und Kenner regionalen Brauchtums damit eher einen Scherz erlauben wollte.
[13]

Für Inspiration hatte in diesem Falle womöglich eine katholische Praxis gesorgt, die Geistliche gerade zu Ostern vor eine besondere Herausforderung stellte. Mancherorts war nämlich der Brauch, die Qualität einer Osterpredigt daran zu messen, ob es ihr gelang, den so genannten „risus paschalis“ auszulösen, das herzhafte „Ostergelächter“ der Gläubigen unter der Kanzel. Dass dies für den Prediger beileibe kein einfach zu bewältigender Brauch war, mag das Wort des preisgekrönten Gießener Philosophen Odo Marquard deutlich zu machen, von dem die Feststellung stammt: „Der Scherz ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes“, denn „Lachen und Denken – beide – sind der Verzicht auf die Anstrengung dumm zu bleiben“[14], womit wir die Frage des Brauchtums gleichsam auf seine philosophische Spitze getrieben hätten.

Vom Verlust Rheingauer Bräuche und dem Verschwinden des „Mainzer Schinkens“
Doch kehren wir noch einmal zu unserem Rheingauer Dokument zurück. Hier muss der Ordnung halber noch der Eindruck korrigiert werden, der Volkskundler Adolf Bach sei der erste gewesen, der dieses für das Rheingauer Brauchtum so wichtige Dokument aus dem Dunkel der Geschichte gezogen hätte. Ein anderer war ihm längst zuvorgekommen. Schon ein Vierteljahrhundert früher, im Jahre 1895, waren Auszüge daraus bekannt geworden, dann aber schnell wieder dem Vergessen anheim gefallen. Das hatte wohl weniger damit zu tun, dass der Autor dieser Veröffentlichung mehrere Jahre als Paranoiker in der Heilanstalt auf dem Kiedricher Eichberg zugebracht hatte, als vielleicht eher damit, dass er zugleich mit dem Noll'schen Bericht in seinem Aufsatz einen bunten Strauß recht abergläubischer Bräuche und magischer Praktiken der Rheingauer aufblätterte, deren Wiederbelebung man in der Region damals wohl nur ungern gesehen hätte.

Ferdinand W. E. Roth (1853-1925), eigenwilliger Privatgelehrter, zeitweise Archivar der Grafen von Eltz und gewissermaßen einer der frühen Rheingauer Heimatforscher, hatte schon im Jahre 1895 über die von dem Rüdesheimer Pfarrer dokumentierten Bräuchen hinaus eine Reihe von Magierezepten gegen Unglück und Krankheit, von abergläubischen Segenssprüchen und nicht ganz kirchenfrommen Bauernregeln mitgeteilt, die er – wie er schreibt - ebenfalls einer „der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angehörenden Handschrift“, also einem alten Rheingauer „Brauchbuch“ entnommen hatte.[15]

Darunter waren so nützliche Ratschläge wie:
„Wer am Charfreitag vor Sonnenaufgang Hefe ißt, kann selbiges Jahr saufen, so viel er will“.
„Wer Donnerstag nüchtern (!) sein Geld zählt, hat das ganze Jahr Geld.“
„Den Rübsamen säe selbst, nicht die Weibsleut, sonst bekommen die Rüben Risse.“
„Wer am grünen Donnerstag fastet, bekommt das ganze Jahr kein Fieber nit.“
„Wenn ein schwarzes Hinkel am Charfreitag legt, das Haus trifft das Jahr keyn Unglück.“
„Am Ostersonntag schöpf vor Sonnenaufgang Wasser im Rhein oder in der Bach, dann wirst du schön im Jahr und bekommst das Fieber nit.“

Nicht von all dem genannten Brauchtum wird man wieder Gebrauch machen wollen oder seine Wiederbelebung wirklich wünschen. Doch rein aus Lokalpatriotismus oder aus Neugier wird der Rheingauer die Sache mit der Hefe vielleicht doch einmal ausprobieren. Eine andere der alten Osterregeln ist womöglich sorgloser zu befolgen, selbst wenn man dadurch mit den gesundheitlichen Ratschlägen des oben genannten protestantischen Pastors Richier aus dem Jahre 1682 in Widerspruch gerät: „Auf Ostern iß hart gesotene Eyer, dann bist du das gantze Jahr gesund.“

Fazit: Selbst wenn das bunte Osterei vielleicht doch wo anders oder gar noch früher erfunden wurde, so wird der Rheingauer sein handgefärbtes Exemplar doch im stolzen Bewusstsein verspeisen, dass zumindest das älteste schriftliche Zeugnis dafür aus dem Rheingau stammt – solange jedenfalls, bis sich jemand anderes mit einem älteren Dokument in dieser Sache zu Worte meldet. Sollte dieser kostbare regionale Schatz aber doch wieder in Vergessenheit geraten, dann wird es den Rheingauer Ostereiern ebenso ergehen wie dem „Mainzer Schinken“. Wer weiß heute noch etwas vom „Mainzer Schinken“? Dabei muss sein Ruf einstmals bis an die Loire und ins Rhonetal gedrungen sein. Wie sonst hätte der humanistische Schriftsteller, Arzt und grandiose Weintrinker François Rabelais ihn so gerühmt.[16] Gleich auf den ersten Seiten seines großen Gargantua-Romans nennt er den „Mainzer Schinken“ in einem Atemzuge mit dem berühmten Bayonner Schinken. Den wunderbaren luftgetrockneten Schinken aus Bayonne, den kennt heute noch jeder. Aber wo, bitte, ist die Tradition des „Mainzer Schinkens“ geblieben?

Zwar haben tatsächlich einige berühmte französische Köche des 17. und 18. Jahrhunderts in ihren Kochbüchern Rezeptanweisungen für den "Jambon de Mayence" hinterlassen, doch schon Johann Fischart hatte in seiner recht eigenwillig kommentierten Rabelais-Übersetzung von 1575 die Stadt Mainz als wahren Ursprungsort dieser Spezialität mehr als angezweifelt.
Johann Fischart 1575
Im 4. Kapitel der Straßburger Ausgabe seiner "Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung" hatte Fischart nämlich dazu angemerkt, dass "dieselbige auß den besten orten, nicht von Magenz noch Menz, wie es die Frantzosen nennen und meynen, sonder auß Westfalen und Frißland" kommen.
Da zu Beginn dieses Jahrhunderts einige Mainzer Lokalpatrioten der Meinung waren, die "Wiederentdeckung" dieses lange verschollenen "Mainzer Traditionsgutes" mit lauten Trompetenstößen feierlich begehen zu müssen und gar ein Mainzer Metzgermeister das "Originalprodukt" wieder anbietet, musste diesem historisch belegten Zweifel an der Mainzer Ursprünglichkeit doch hier einmal das Wort erteilt werden.

Nehmen wir es so: Für den Rheingauer mag das Verschwinden des „Mainzer Schinkens“ vielleicht ein kleiner Trost sein, eine späte Genugtuung für all die weinseligen Festbräuche und Feieranlässe, die ihm im 17. und 18. Jahrhundert von kurmainzischen Beamten durch Gesetz und Verordnung aus dem Brauchtumskalender gestrichen wurden. Auch bei intensiven Bemühungen seitens der Rheingauer Weinwirtschaft wird man der Wiederbelebung mancher von ihnen kaum ernsthafte Chancen einräumen. Niemand würde Gebrauch davon machen.
Das Osterei als handbemalte zerbrechliche Hülle hingegen bleibt dem Rheingauer auch fortan Symbol für das immer gefährdete Leben. Wo es freilich aus Plastik ist, wird er nachdenklich werden über das Wunder seiner Unverwüstlichkeit.


Anmerkungen

[1] Auszüge aus diesem Text erschienen als Osterfeuilleton in den verschiedenen Ausgaben der Rhein-Main-Presse 2003; eine Druckfassung in „Rheingau-Forum“, 2003, H. 3, S.26-32.
[2] Sonntagsblatt des Nordhäuser Courier. 1896, Nr. 52; vgl. auch Heidemarie Gruppe: Katalog der Luther- und Reformationssagen des 19. Jahrhunderts. In: Wolfgang Brückner (Hg.): Volkserzählung und Reformation. Berlin 1974, S. 295-324. Nr. 135.
[3] Vgl. beispielsweise: Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin/Leipzig 1927-1942, Bd. 6, Sp. 1327ff. und das dort zitierte Quellenmaterial.
[4] Friedrich Kluge: Die Ostereier in Deutschland. In: Archiv für Religionswissenschaft, Bd. 20 (1923/24), S. 356-359.
[5] ebd. S. 357.
[6] ebd. S. 359.
[7] Adolf Bach: Ostereier. In: Archiv für Religionswissenschaft. Bd.24 (1926), S.173-175, hier S. 174.
[8] ebd.
[9] Vgl. Johannes Zaun: Beiträge zur Geschichte des Landcapitels Rheingau. Wiesbaden 1879, S. 287.
[10] Vgl. Elmar M. Lorey: Die Weinapotheke. Amüsantes, Kurioses und Wissenswertes aus alten Kräuterbüchern und Chroniken. Bern/Stuttgart 1993, S.131ff.
[11] Vgl. Manfred Becker-Huberti: Lexikon der Bräuche und Feste. Freiburg/Basel/Wien 2000, S. 302.
[12] Vgl. Hugo Hepding: Ostereier und Osterhase. In: Hessische Blätter für Volkskunde. Bd. 26 (1927), S. 127f.
[13] Johannes Richier: De ovis paschalibus / Von Oster=Eyern. Heidelberg 1682.
[14] Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart 2003, S. 191
[15] Ferdinand Wilhelm Emil Roth: Zur Geschichte der Volksbräuche und des Volksaberglaubens im Rheingau während des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Kulturgeschichte. Neue 4. Folge, Bd. 2 (1895), S.183-191, hier S. 187. (Das Original des historischen Dokumentes war leider in keinem der einschlägigen Staats- oder Diözesanarchive mehr aufzutreiben und muss vermutlich als verschollen gelten.)
[16] Erstes Buch, Kapitel 3; vgl. Francois Rabelais: Gargantua und Pantagruel. (Deutsch von Horst und Edith Heintze) Frankfurt 1974, S. 44. „Grandgousier war seinerzeit ein lustiger Gesell, der so gern wie jeder andere damals bis auf den Grund trank und dazu Gesalzenes aß. Zu diesem Zweck hielt er sich stets einen tüchtigen Vorrat Mainzer und Bayonner Schinken, geräucherte Ochsenzungen, Würste verschiedener Art, wie gerade die Jahreszeit war.“

© Elmar M. Lorey 01/2004
Stand 04/2011


[zur Hauptseite]                                   [zur Übersicht über alle Seiten]