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Die Vorstellung vom wolfsverwandelten Menschen
in einer literarischen Annäherung des 20. Jahrhunderts.

Grafik: Bettina WölfelNach der dämonologischen Kontaminierung des Werwolfs in der Zeit der Hexenverfolgung tragen noch viele der im 19. Jahrhundert zusammengetragenen Sagen  diese hexerische Signatur, unter der zahlreiche Facetten des ursprünglichen Erzählprogramms verlorengegangen sind. Vor allem die leidenschaftlichen Volksaufklärer mit ihrem unnachsichtigen Blick auf die "abergläubischen kleinen Leute" machten ihn nun zum Bürger- und Kinderschreck. Für eine ernsthafte literarische Bearbeitung, so scheint es, war diese Gestalt nicht mehr zu gebrauchen. Zu sehr belastet, verdorben und unfruchtbar. Nur wenige Schriftsteller hat sie noch wirklich befeuert. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg verschwand der Werwolf dann auch aus seinem angestammten Revier, dem ländlichen Erzählkreis. Und das, obwohl gerade jetzt seine neue Karriere auf der Leinwand begann.

Unseren Nachbarn, in Frankreich und den Niederlanden beispielsweise, erschien diese Figur weniger "verdorben". Dort entstanden und entstehen noch immer neue erzählerische Auseinandersetzungen, kaum oder gar nicht vom Hexenmuster belastet. Zuletzt etwa die französische Archäologin Fred(érique) Vargas mit ihrem neuen Krimi "L´Homme à L´envers" (deutsch: Bei Anbruch der Nacht, Berlin 2000).
Unter den wenigen deutschen Autoren, die diese alte Vorstellung auf ihre literarische Tauglichkeit abgetastet haben, ist es vor allem Hermann Hesse gelungen, im "Steppenwolf" daraus eine eigenwillige und sehr existentielle Perspektive zu entfalten. "Die meisten Sachen, die man uns lehrt, sind gewiß ganz wahr und richtig, aber man kann sie alle auch anders ansehen, als die Lehrer es tun und meistens haben sie dann einen viel besseren Sinn." Getreu diesem Motto aus dem "Demian" wirft er souverän die alte Last ab, die  frühneuzeitliche Dämonologen dieser Figur aufgebürdet haben.
Hier ein Zitat:

 
"... Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf. Er hatte vieles von dem gelernt, was Menschen mit gutem Verstande lernen können, und war ein ziemlich kluger Mann. Was er aber nicht gelernt hatte, war dies: mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein. Dies konnte er nicht, er war ein unzufriedener Mensch. Das kam wahrscheinlich daher, daß er im Grunde seines Herzens jederzeit wußte (oder zu wissen glaubte), daß er eigentlich gar kein Mensch, sondern ein Wolf aus der Steppe sei. Es mögen sich kluge Menschen darüber streiten, ob er nun wirklich ein Wolf war, ob er einmal, vielleicht schon vor seiner Geburt, aus einem Wolf in einen Menschen verzaubert worden war oder ob er als Mensch geboren, aber mit der Seele eines Steppenwolfes begabt und von ihr besessen war oder ob dieser Glaube, daß er eigentlich ein Wolf sei, bloß eine Einbildung oder Krankheit von ihm war. Zum Beispiel wäre es ja möglich, daß dieser Menschen etwa in seiner Kindheit wild und unbändig und unordentlich war, daß seine Erzieher versucht hatten, die Bestie in ihm totzukriegen, und ihm gerade dadurch die Einbildung und den Glauben schufen, daß er in der Tat eigentlich eine Bestie sei, nur mit einem dünnen Überzug von Erziehung und Menschentum darüber. Man könnte hierüber lang und unterhaltend sprechen und sogar Bücher darüber schreiben; dem Steppenwolf aber wäre damit nicht gedient, denn für ihn war es ganz einerlei, ob der Wolf in ihn hineingehext oder -geprügelt oder aber nur eine Einbildung seiner Seele sei. Was andere darüber denken mochten und auch was er selbst darüber denken mochte, das war für ihn nichts wert, das holte den Wolf doch nicht aus ihm heraus.
... daß er zuweilen den Wolf, zuweilen den Menschen auch rein und ungestört in sich atmen, denken und fühlen konnte, ja, daß beide manchmal, in sehr seltenen Stunden, Frieden schlossen und einander zu Liebe lebten, so daß nicht bloß der eine schlief, während der andere wachte, sondern beide einander stärkten und jeder den anderen verdoppelte.
... Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welche Harry sich sein Schicksal verständlicher zu machen sucht, ist eine sehr grobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet ... Harry findet in sich einen "Menschen", das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen "Wolf", das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur. Trotz dieser scheinbar so klaren Einteilung seines Wesens in zwei Spähren, die einander feindlich sind, hat er es aber je und je erlebt, daß Wolf und Mensch sich für eine Weile, für einen glücklichen Augenblick miteinander vertrugen. Wollte Harry in jedem einzelnen Moment seines Lebens, in jeder seiner Taten, in jeder seiner Empfindungen festzustellen versuchen, welchen Anteil daran der Mensch, welchen Anteil der Wolf habe, so käme er sofort in die Klemme, und seine ganze hübsche Wolftheorie ginge in die Brüche.
... Vielleicht hat er nie einen wirklichen Wolf genau beobachtet - er hätte dann vielleicht gesehen, daß auch die Tiere keine einheitliche Seele haben, daß auch bei ihnen hinter der schönen straffen Form des Leibes eine Vielfalt von Strebungen und Zuständen wohnt, daß auch der Wolf Abgründe in sich hat, daß auch der Wolf leidet ...

Ich Steppenwolf trabe und trabe,
Die Welt liegt voll Schnee,
Vom Birnbaum flügelt der Rabe,
Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh!
..."
Weiterlesen bei:

Hermann Hesse
Steppenwolf; Traktat vom Steppenwolf  (1927)
Z.B. im kommentierten suhrkamp taschenbuch 2786 , Frankfurt 1999.


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